Zu neuen Bildern von Angelika Margull

von Dr. Jürgen Schilling
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Die in jüngster Zeit entstandenen Gemälde Angelika Margulls evozieren trotz ihrer Andersartigkeit Reminiszenzen an jene konsequent der Wirklichkeit abgeschauten Bilder, die die Künstlerin bekannt gemacht haben: Damals betrieb sie eine individuelle Erforschung körperlicher Gegebenheiten, die – bedingt durch ihre Art der Darstellung – auch Vermutungen über Affekte, inneres Befinden und Situationen zuließen. Ausschnitthaft schilderten ihre Zeichnungen und Gemälde präzise und detailverliebt menschliche Gesichter, Füße und Hände, Mimik und Gestik aus ungewohnter und überraschender Sicht. Die raffinierte Nutzung perspektivischer Regeln bewirkte, dass die Dimensionen fragmentierter Gesichtspartien und Gliedmaßen sich verschoben und überspitzt erschienen, plastische Qualitäten entwickelten und geradezu aggressiv wirkten.

Auch heute dient Angelika Margull die Perspektive als Mittel, um eine eigenwillige Sicht auf menschliche Körperformen zu entwerfen, die nun allerdings weniger als zentrales Motiv in Erscheinung treten als dass sie als deutbare Formen die Kompositionen dominieren. Es sind nackte Leiber, ohne dass ihre Darstellungen als Akte zu begreifen wären. Schemenhaft bewegen sie sich über die Leinwand, einzeln, verdoppelt und parallel gestaffelt ausschreitend und immer aus der Aufsicht gegeben, was bedeutet, dass in den Raum führende Flächen in geringerer perspektivischer Verkürzung abgebildet werden. Margull nutzt eine Form der so genannten Kavaliersperspektive, eine Bezeichnung, die sich auf die Sicht eines Reiters vom Rücken seines Pferdes bezieht und der wir schon bei Signorelli oder Grünewald begegnen. Margull operiert mit dem als »Vertigo« bekannten Phänomen, das sich medizinisch als Störung des Vestbularapparates, die zu Schwindelerscheinungen führen kann, diagnostizieren lässt, jedoch darüber hinaus als Sinnbild für Schwindel, Täuschung und Übertreibung, aber auch für Berauschtheit stehen kann.

Aus zurückliegenden Epochen, wie etwa dem Spätmanierismus und dem Barock, kennen wir den Effekt der Verkürzung wie ihn Margull beständig verwendet vorwiegend aus der Dekorationsmalerei. Vorzugsweise bei Deckengemälden und Fresken angewandt, diente er dazu, Realitätsgrenzen zu verwischen, indem man die Extremitäten von Figuren oder Scheinarchitekturen durch radikale Stauchnungen auch für den Blick von unten wirklichkeitsnah machen wollte, was nicht nur souveränes technischen Können, sondern auch eine innovative Phantasie voraussetzte. Die illusionistisch untersichtige Ausmalung von Kirchendecken führt – vorwiegend aus programmatisch-propagandistischen Gründen – in scheinbar unendliche Weite hinauf und vermag den Betrachter in metaphysische Dimensionen einzubeziehen. Derartiger, nicht zuletzt der radikalen Tiefenwirkung zu verdankenden barocken Unruhe setzt Margull eine in mehrfacher Hinsicht konstruktive Mäßigung entgegen. Die Bewegungs- und Farbwirkungen auf ihren Bildern sind verhalten; das vergeistigte Schwingen und Schweben ihrer Farbkonstellationen offenbaren Margulls Vorliebe für die magischen Visionen eines František Kupka und die wabernden, geheimnisvoll-assoziativen Phantasmagorien Odilon Redons. Nur hie und da aus einer insgesamt homogenen Farbigkeit ausbrechende geometrisierende Formen, kontrastierende Zwickel, akzentuieren die biegsame Linienführung der Körperumrisse, bzw. beschreiben Leerräume, wie sie sich ergeben, wenn sich Gelenke bewegen und Gliedmaßen sich abspreizen. Es ist – um den Titel einer eindrucksvollen Wiener Ausstellung aus dem Jahre 1992 zu benutzen – die Beredsamkeit des Leibes, seiner Formen und ornamental wirksamen Bewegungsabläufe, die den Rhythmus in Margulls Inszenierungen bestimmen. Ihr durch die rigorose Aufsicht konditionierter Proportionskanon vermeidet jede Künstlichkeit, die akrobatisch anmuten könnte. Sie vermittelt zugleich eine Vorstellung von Figur und deren Mobilität – tatsächlich wird durch die Einbeziehung suggerierter Simultaneität von Bewegungsabläufen der Faktor »Zeit« präsent – aus einem vom »normalen« abweichenden Blickpunkt und zeigt den menschlichen Leib silhouttenhaft mit beinahe landschaftlicher Objektivierung, weil sie auf die Beschreibung seiner Beschaffenheit verzichtet, wenn man von knappen Hinweisen auf das Geschlecht absieht. Der durch den scheinbaren Schwebezustand der Figurationen und das Spiel mit dem »oben« und »unten« zeitweise verunsicherte Betrachter weiß um die tatsächlichen Proportionen und ergänzt durch sein mimetisches Vermögen das optisch Wahrgenommene; das zwischen Illusion und Simulation angesiedelte Bild wird zur Projektionsfläche für seine Imagination. Im Binnenbereich nicht im Detail definierte Felder bewegen sich als freie Formen auf der Leinwand oder dem Papier. Sie sind eingebettet in eine Fülle kleinteiliger Chiffren, die die Räumlichkeit definieren, bzw. für Objekte im sie umringenden Umfeld stehen. Anekdotisches bleibt außen vor. Das optisch erfasste Bild der Realität, wie es eine Folge von plastische und funktionale Gegebenheiten fixierender Fotografien zeigt, die als Grundlagen für Angelika Margulls Werke dienen, tritt zurück. Festgehalten wird der Augenblick.

Trotz diverser Andeutungen wird auf narrative Konstruktionen verzichtet. Alles ordnet sich den Prinzipien reiner Malerei unter, dem einfallsreichen, kalkulierten und fruchtbaren Zusammenspiel von Formgefügen und Farben. Raum und Körper, an dem sich der schöpferische Impuls entzündet, durchdringen sich und verschmelzen zu einer organischen Einheit. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die fließenden, zarten Farbübergänge, die nur gelegentlich von abgrenzenden schwarzen Konturen unterbrochen werden. Margull beschränkt sich vorwiegend auf Grünvariationen, milde Braun-Rot-Werte und alle Varianten, die eine changierende Grauskala bietet. Die insgesamt tonig-sanfte, flächige Farbgebung ist als spezifischer Akzent zu begreifen, der verhindert, dass sich von der Figur inspirierte Partien durch zu große Exaktheit der räumlichen Organisation durchsetzen. Sie überspielt die Gegenständlichkeit dieser Malerei. Selbst die den Silhouetten zugeordneten dunklen Schattenformen könnten als frei formulierte Farblagunen gedeutet werden ebenso wie jene durch wenige Pinselstriche angedeuteten Raumsplitter, die an manchen Abschnitten eine Ahnung von der Wesensart des Ambiente vermitteln.

Die Konfrontation mit dem menschlichen Körper, über Jahrhunderte das Maß aller Dinge und Prinzip höherer Harmonie, blieb trotz aller Experimente und Deformationen seit dem Beginn des vergangenen Jahrhunderts ein taugliches und zentrales Thema in der bildenden Kunst. Gerade heute führt eine Vielzahl von Ausstellungen der Skulptur und Malerei vor Augen, wie obsessiv die aktuelle Auseinandersetzung mit dem Körper als Organismus oder Maschine, seiner Dynamik und seiner Funktionen von Künstlern angegangen wird; nüchtern, sachlich und kühl oder – wie es hier geschieht – mit sensuellem Interesse an ihrer erträumten oder realen erotischen Präsenz. Gerade die jüngsten Bilder der hier ausgestellten Folge legen Margulls Interesse offen, ihre bis dahin anonymen und sexuell neutralen Schilderungen zu personifizieren, indem sie die Gesäße ihrer Figuren durch – wie sie sagt, » kleine aber unübersehbare Lichter versucht ‚leckerer’ zu machen« , und zwar als Hinweis auf deren androgyne Verführungskraft.

Die vorgebliche Unwirklichkeit der isolierten Erscheinung von Körpern als ausgespartem Raum, Hülle und Hülse, verweist über das heute so oft angesprochene Existenz- und Umweltgefühl hinaus auf eine spirituelle Ebene. »Menschliche Spur und menschlicher Schatten werfen die uralten Fragen nach dem Sinn des Daseins auf«, schrieb Doris Schmidt einmal bezogen auf eine Ausstellung, die sich dem Menschenbild als Schatten, Schablone und Leerform widmete und vorwiegend Werke präsentierte, die – wie häufig in Zeiten von Pop Art und Nouveau Réalisme – das Aussparen menschlicher Wesen in gestalteten Räumen ansprachen, bzw. ihn als ausgeschnittenen Schattenriss zeigten. Aber auch die weißen Gipsfiguren von George Segal oder Anthropometrien Yves Kleins waren einbezogen, wobei letztere, die Wieland Schmied einmal als »Abklatsche vorüberhuschender Körper auf der Leinwand, Bilder flachsten Naturalismus’ und wörtlicher Abbildhaftigkeit« beschrieb, in Bezug auf ihre kosmische Attitüde und den transzendenten Anspruch formal und inhaltlich in ferner verwandtschaftlicher Beziehung zu Margulls Arbeit stehen, Gemein ist ihnen zumindest das Prinzip latenter Beunruhigung durch Verunsicherung des Betrachters, dem diese transparenten und doch Schatten werfenden Wesen unheimlich vorkommen mögen. Und zwar im freudschen, das Unheimliche als Form von »heimlich«, »verborgen« interpretierenden Sinne, »dass die Präsenz des Unheimlichen mitten im Vertrauten Unruhe, Angst, gespaltenes Bewusstsein und Desorientierung erzeugt und gleichzeitig Ausdruck dieser Gespaltenheit ist, nimmt der gegenwärtige ästhetische Diskurs den Begriff auf. Es sind starke menschliche Grunderfahrungen, die sich im Unheimlichen zu Wort melden […] Die Bilder machen das Abwesende als Leere, als fragmentierte Erinnerung, als Wiederkehr des Verdrängten oder als Vision sichtbar.«

Die eigentümliche Anziehungskraft dieser Gemälde ermutigt zur Reflektion über Erscheinungsbild, Körperrhetorik und Energie des Menschen und dem Vermögen der bildenden Kunst, diese in immer neuer Weise zum Sprechen zu bringen, auch und gerade dann, wenn wir es nur mit minimierten Andeutungen auf durch ihre gelassene Stille bestrickenden Bildern zu tun haben, wie es die von Angelika Margull sind. Francis Bacon sprach in einem Gespräch mit David Sylvester davon, dass für ihn das Mysteriöse an der Malerei heute die Frage sei, »wie man Erscheinungen darstellen kann […] wie kann man es fertig bringen, das Mysteriöse an der Erscheinung innerhalb des Mysteriösen der Bildentstehung zu erfassen […] man hofft, den Gegenstand plötzlich auf eine völlig irrationale Art hervorzubringen, dass er jedoch ganz real sein wird […].« Ähnlich mag Angelika Margull gedacht haben, als sie diese Bildfolge anging.